DDR-Zeitzeugen geben Friedensschülern Einblick in ihre Geschichten
Seit einem Jahr sind Manuela und Gerd Keil verheiratet. Eine Liebe, die es zu Zeiten der DDR, wo beide aufgewachsen sind, niemals gegeben hätte. Er ein politischer Häftling der Stasi, der schon früh unbequeme Fragen stellte; Sie, zivile Staatsbedienstete bei der Kriminalpolizei in Ost-Berlin, die verlernt hatte, Fragen zu stellen. Ehepaar Keil und fünf weitere Zeitzeugen standen am 22. März rund 150 Oberstufenschülerinnen und -schülern aus der Q1 der Bischöflichen Friedensschule in Münster Rede und Antwort. Über die persönlichen Lebensgeschichten bekamen die Schüler einen Einblick in das Thema „Menschenrechte und ihre Verletzung in der DDR“.
Auf Einladung von Lehrerin Ina Brodde war die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) mit dem Projekttag an die Friedensschule gekommen. Die Menschenrechtsarbeit und die Festigung der Demokratie zählen für die politische Stiftung zu den Kernaufgaben in Deutschland und in der Welt. Bei der selbsternannten Deutschen Demokratischen Republik habe es sich nicht um eine Demokratie gehandelt, sondern um eine Diktatur unter Herrschaft der SED, hatte die KAS in ihrer Einführung geschrieben. „Zwar schrieb die Verfassung die wichtigsten Grundrechte fest, aber in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit wurden diese jäh unterdrückt“, heißt es weiter.
Axel Reitel wurde 1982 von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“ – für 95.847 D-Mark, wie der einstige DDR-Oppositionelle den Friedensschülern berichtete. Damals war Reitel ein „Krimineller“ und saß nach einer gescheiterten Republikflucht als politischer Häftling im Zuchthaus Cottbus. Er beteiligte sich an einer Protestaktion, um die polnische Gewerkschaft Solidarność zu ehren, deren Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand ihn beeindruckte. „Als wir im Gefängnis unsere Protestaktion vorbereiteten, war diese vor allem gegen die ‚Vertikale der Macht‘ gerichtet. Es ging uns, so indianerhaft es klingt, um den Sieg der fehlerhaften Demokratie über die mit dem Tod aller drohenden Diktatur“, erklärte der als Journalist und Schriftsteller arbeitende Reitel. Er appellierte an die jungen Erwachsenen, sich mit der Geschichte auseinandersetzen, um Zusammenhänge zu verstehen – auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg, auf den die Schüler in mehreren Fragen Bezug nahmen.
In Kleingruppen bekamen die Schüler einen tieferen Einblick in die Biografien der Zeitzeugen – auch in die des Ehepaares Keil, das sich 2014 kennenlernte. „Gerd hat mich sehend gemacht“, betonte Manuela Keil, die ab dem Alter von zwei Jahren ein Kinderwochenheim besuchen musste, wo sie im sozialistischen Sinne erzogen wurde. Gehorsam und Befehle waren an der Tagesordnung, Widerspruch wurde nicht geduldet. „Ich habe an das System geglaubt“, sagt sie rückblickend und ist heute dankbar, dass sie vor gut zehn Jahren angefangen hat, ihre Geschichte aufzuarbeiten. „Es ist wichtig, Fragen zu stellen“, ermutigte sich die Schüler.
Als Zeitzeugen legten auch zwei Frauen mit Verbindungen zur Friedensschule ihre Geschichte mit der DDR offen. Antje Karnagel, die Großmutter von Lehrerin Lisa-Marie Karnagel, wurde 1965 aus der DDR „ausgekauft“. Im Urlaub hatte sie ihren Mann kennengelernt, sie erwarteten ein Kind und wollten heiraten. „Wir haben ein Dreivierteljahr nach dem Mauerbau geheiratet – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber wir hatten großes Glück“, berichtete Antje Karnagel. Drei Jahre dauerte es, bis sie – vermittelt vom Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel – mit zwei Kindern endlich zu ihrem Mann nach Braunschweig ziehen konnte. Über die Kindheit und Jugend in der DDR konnte Lehrerin Dr. Claudia Strieter den Schülern berichten. 1976 in einer Kleinstadt bei Leipzig geboren, wuchs sie in der DDR auf. Ihren Großvater, der kurz vor dem Mauerbau in den Westen gegangen war, sah sie nur selten. Als die Mauer fiel, war Claudia Strieter 13 Jahre alt: „Die DDR hat mich geprägt. Als wir 1990 nach Hannover zogen, mussten meine Mutter und ich erst lernen, in einer Demokratie zu leben.“
Ann-Christin Ladermann