Zu den Anfängen der Geschichte der Friedensschule

All diejenigen, die 1969 alt genug waren und in deren Haushalt bereits ein Schwarz-Weiß Fernseher stand, werden sich an diese Bilder der ersten Mondlandung erinnern. Gebannt schaute die Welt auf Neil Armstrong, der als erster Mensch am 21. Juli 1969 seinen Fuß auf die Oberfläche des Erdtrabanten setzte und zur Erde funkte: "This is a small step for a man, but a giant step for mankind." All diejenigen unter uns, die schon einmal in Bonn, im Haus der deutschen Geschichte waren, erinnern sich vielleicht an die Ausstellung der Bilder von der ersten Mondlandung, eben in diesem Jahr: 1969. Und quasi direkt daneben hängt das Bild der ersten Gesamtschule, der Friedensschule. Als einer der ersten sieben Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen. Es muss also Parallelen zwischen dieser Mondlandung und der Entstehung von Gesamtschulen in NRW geben..

 

Neil Armstrong sprach von dem kleinen Schritt für ihn als Menschen, der einen großen Schritt für die Menschheit bedeutete.

 

Für die ersten Schüler und Schülerinnen, die kleine Sabine, die kleine Brigitte oder den kleinen Hubert war es auch ein kleiner, aber wichtiger Schritt, als sie am 25. August 1969 über die Stufen des Ludgerianums in die neue Gesamtschule Friedensschule traten. Für das Bistum Münster und für die Friedensschule, als erste Gesamtschule in kirchlicher Trägerschaft, war es ein gewaltiger Schritt. Um die Tragweite und Bedeutung dieses Schrittes ermessen zu können, muss man sich noch einmal die Rahmenbedingungen vergegenwärtigen, unter denen diese neue Gesamtschule damals das Licht der Welt erblickte.

Die zweite Hälfte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren in Deutschland eine Zeit intensiver gesellschafts- und bildungspolitischer Kontroversen. Der Ruf nach Veränderung im System der Schulen und Hochschulen wurde lauter und drängender. Veröffentlichungen wie Georg Picht "Die deutsche Bildungskatastrophe" von 1963 machten der Öffentlichkeit Defizite im deutschen Bildungssystem bewusst. Einige Bildungspolitiker riefen gar den Bildungsnotstand aus. Progressive und konservative Kreise stritten über das tauglichere Schulsystem. Das Bistum Münster, in dem es schon damals viele kirchliche Schulen, einerseits Ordenschulen, aber auch Schulen in eigener Trägerschaft gab, konnte sich dieser Debatte nicht vollends entziehen.

 

Den Anstoß, neue Schulmodelle im Bistum Münster zu erproben ging jedoch viel stärker von den Impulsen des zweiten vatikanischen Konzils (1962 - 1965) aus. Der dort formulierte, kirchlich theologische Gerichtspunkt des Aggiornamento, der Anpassung an die heutigen Verhältnisse, sollte auch im Schulwesen seinen Niederschlag finden. So betonen diese kirchlichen Dokumente in ganz neuer Weise die Bedeutung von Schule für die individuelle, aber auch die gesellschaftliche Entwicklung eines jungen Menschen. Andererseits erkannte man in Kirche aber auch die Defizite des bestehenden Schulsystems: Seine Unfähigkeit soziale Nachteile von Menschen aus bestimmten sozialen Gruppen auszugleichen, seine mangelnde Flexibilität durch die sehr frühe Festlegung der Schulform und damit des gewünschten Abschlusses und seine pädagogischen Defizite, angemessen auf neue Fragestellungen der jungen Generation einzugehen und ihnen bei deren Beantwortung zu helfen. Aus diesem Bewusstsein heraus entstanden in den 60er Jahren im Bistum Münster mehrere zukunftsweisende Schulmodelle: Zum einen die Erich-Klausener-Realschule in Herten, eine Ganztagsrealschule, die Fürstenberg-Schulen als kooperative Gesamtschule in Recke, die Papst-Johannes-Schule als Förderschule für geistig Behinderte und eben die Friedensschule als erste integrierte und differenzierte Gesamtschule in Ganztagsform.

 

Gemeinsamer Fokus aller dieser Schulen war die Schaffung einer schülergerechten Schule, die das Individuum und seine Entwicklung wirklich in den Mittelpunkt stellt und die einer elterngerechten Schule, die Ernst machte mit der Mitwirkung von Eltern am Schulgeschehen. Diese Schulversuche wurden durch vom Bistum einberufene Planungsgruppen sorgfältig vorbereitet und wissenschaftlich begleitet. Für die wissenschaftliche Begleitung der Friedensschule sind vor allen Dingen 5 Namen besonders hervorzuheben: Der damalige Domkapitular und spätere Dompropst Wilhelm Gertz, der damalige Leiter des Schulwesens im Bistum Münster, der geistliche Rat Dr. Josef Homeyer, der spätere Bischof von Hildesheim Herr Dr. Dikow und Herr Prof. Alois Regenbrecht und natürlich der damals schon in Aussicht genommene zukünftige Schulleiter der Friedensschule, Herr Alder.

 

Trotz dieser fundierten wissenschaftlichen und pädagogischen Begleitung des Schulmodells Friedenschule konnte es nicht ausbleiben, dass sowohl im Vorfeld der Gründung, wie auch in den ersten Jahren, die Entstehung einer integrierten Gesamtschule, gegründet durch die Kirche im SPD regierten NRW, Kritik von unterschiedlichen Seiten hervorrief. Progressive Kreise kritisierten die viel zu konservative Art dieser Gesamtschulgründung. Dies sei nicht die gewünschte Revolution des Schulwesens, sondern nur eine Wandlung des Organisationsmantels, in dem tradierte Inhalte Platz haben könnten. Andere sprachen von der Gefahr, dass die Kirchen über diesen Schulversuch beabsichtigten die Schulpolitik konfessionell zu beeinflussen. Konservative Kreise kritisierten – aus Angst davor, dass die Gesamtschule in NRW Regelschule werden könnte -, dass das Bistum Münster ihnen durch die Gründung einer solchen "linken" Einrichtung in den Rücken falle.

 

Um den Erfolg der Friedensschule von der 1. Stunde an richtig begreifen zu können, ist es aufschlussreich, sich die Schul- und Lebenssituation der Menschen im Münsterland in den 1960er und 1970er Jahren noch einmal vor Augen zu führen. Mehr noch als die Stadt Münster besaß vor allem Dingen das ländlich geprägte Münsterland noch das, was man heute als intakte Strukturen bezeichnen würde. Natürlich gab es damals auch schon Scheidungen und zerstörte Familienstrukturen, aber es dominierte die Vater- und Mutterfamilie meist mit mehreren Kindern. In der überwiegenden Mehrzahl dieser Familien war nur ein Elternteil - nämlich der Vater - berufstätig, die Mutter kümmerte sich um die Erziehung der Kinder. Darüber hinaus funktionierte die Sozialisation der Kinder durch intakte Nachbarschaftsstrukturen, durch Messdienergruppen, Jugendgruppen und Vereine. Fast jede Pfarrei hatte damals noch einen Kaplan, der sich um die Freizeitgestaltung, aber auch um die Erziehung der Jugendlichen kümmern konnte. Warum, so fragten sich viele Eltern, soll ich mein Kind von 8 - 16 Uhr in eine Ganztagsschule geben und damit nicht nur die Bildung, sondern auch die Erziehung den Lehrern überlassen? Dazu gab es in den Augen weiterer Bevölkerungskreise ein funktionierendes dreigliedriges Schulsystem. Die Hauptschule, besonders im ländlichen Raum, leistete anerkannte Arbeit und bis weit in die 70er Jahre hinein bekam auch jeder Hauptschüler mit Abschluss eine Ausbildungsstelle. Wozu bedurfte es, angesichts dieser klaren Strukturen, eine Gesamtschule, die auf eine vorzeitige Festlegung des Bildungsweges und des Abschlusses verzichtete?

 

Offensichtlich lag es am Programm und am Angebot der Friedensschule, dass diese von Anfang an eine solche Akzeptanz erfuhr. Ein Blick in das im Februar 1970 vom Beirat und der Forschungsgruppe veröffentlichte Programm einer Gesamtschule verdeutlicht, wie wertvoll überzeugend diese pädagogischen Setzungen von damals offensichtlich waren. Und man ist fasziniert, wie aktuell diese auch im Jahr 2009 noch sind.

 

Zwei Beispiele mögen dies kurz illustrieren:
1. In diesem Programm heißt es unter dem Stichwort: "Leben und Handeln in einer Welt pluraler Ziele und Wertvorstellungen. "Das Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach einem echten Konsens und dem Finden eigener Positionen gehört zu den Ursachen für die Friedlosigkeit in unserer Welt. Die Friedensschule sieht es als ihre wesentliche Aufgabe an, ihre Schüler auf eine geregelte Lösung dieser Konflikte vorzubereiten." So wichtig die Friedensschulfachinhalte auch waren und es immer noch sind, die Friedensschule hat sich, lange bevor es in Deutschland so etwas wie eine Friedensbewegung gab, es sich als Auftrag gesetzt ihre Schüler darauf vorzubereiten geregelte Lösungen zu finden, statt eigenen Interessen durchzuboxen und so die Welt, zumindest in ihrem direkten Umfeld, etwas friedfertiger zu gestalten.

 

2. Unter dem Stichwort: "Leben in einer durch die Wissenschaft rationalisierten Welt" formuliert das Programm der Friedensschule folgendes Lernziel: Den Schülern soll in wissenschaftlichem Denken die Grenze des rationales Erfassens der Wirklichkeit bewusst werden. Das Leben mit der Kunst und das Leben aus dem Glauben sollen in ihrer gesamtmenschlichen Bedeutung erfahrbar werden. Den Gründern dieser Gesamtschule war klar, dass in einer durch die Wissenschaft völlig rationalisierten Welt die Kunst (gemeint sind natürlich auch Musik, Theater und Tanz) dem Schüler einen stärker individualisierten eigenschöpferischen Zugang zur Wirklichkeit ermöglichte. Hier werden seine spontanen, kreativen Kräfte angesprochen, die zum vollen Menschlein unbedingt dazu gehören. Und deshalb gehören Kunst, Musik und Theater bis heute zu den wesentlichen Säulen im Programm unserer Schule.

 

Als katholische Schule war und ist es der Friedensschule wichtig, dass eine der Wirklichkeitsbegeg-nungen im Leben aus dem Glauben geschieht. Glaube ist immer Geschenk, aber in einer von Rationalität geprägten Welt ist es unerlässlich, den Schülerinnen und Schülern vielfältige Angebote zur Begegnung mit Glaube und Religion zu machen. Im Glauben kann der Mensch Antworten auf seine Fragen nach dem Sinn der Welt und dem Sinn seines Lebens erhalten, die der bloßen Vernunft verschlossen bleibt. Das galt 1969 und das gilt uneingeschränkt auch heute.

 

Wenn wir auf unser Bildungssystem im Jahr 2009, auf unsere gegenwärtige Gesellschaft und konkret auf unsere Familienstrukturen blicken, dann darf - nein muss - man das Programm der FSM von 1969 als in vielen Teilen visionär betrachten. Schon im Jahr 1969 wies Herr Dr. Homeyer darauf hin, dass es eine zentrale Aufgabe einer katholischen Gesamtschule sei, Kinder aus Bildungsfernschichten und sozial benachteiligten Milieus eine echte Chance auf Entwicklung und Enthaltung ihrer Begabung und somit auf einen guten Schulabschluss zu geben. Wie viel wichtiger ist eine solche Aufgabe heute? Hier in Münster, wie in der gesamten deutschen Bevölkerung, ist laut Armutsbericht der Bundesregierung von 2009 die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gegangen. Aus vielerlei Gründen hat der Anteil der Menschen, die mit ihrem Einkommen kaum noch ein Auskommen finden, zugenommen. Dabei tragen vor allen die Familien mit mehreren Kindern ein hohes Risiko in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Besonders hoch, so dieser Armutsbericht von 2009, ist dabei das Risiko für Alleinerziehende. Wenn man bedenkt, dass von den Kindern, die für das Schuljahr 2009/2010 um Aufnahme in die Friedensschule baten, fast 30 % nur bei einem Elternteil leben, dann verdeutlicht dies, wie viele Hoffnungen und Erwartungen diese Eltern mit einer Gesamtschule mit echten Ganztagsangeboten verknüpfen. Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, bezeichnet die Familiengerechtigkeit und die Bildungsgerechtigkeit als die zwei Schlüsselfragen für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Dabei, so Marx, stehen auch die Kirchen mit in der Verantwortung. Die Frage der Bildungsgerechtigkeit berührt auch die Frage nach unserem Schulsystem. „Die Funktionsfähigkeit unseres Schulsystems ist heute durch zahlreiche Fehlleitungen und damit verbundenen Abbrüche von Bildungsgängen herab gemindert.“ Dieser Satz stammt nicht von einem heutigen Bildungspolitiker, sondern entstammt dem Programm der Friedensschule von 1969. Vielen Eltern fällt es zunehmend schwerer für ihr Kind zur Mitte der 4. Klasse eine Entscheidung für eine weiterführende Schule zu treffen: Das Gymnasium mit seinem, seit G8 erhöhtem Lerntempo und Lernleistungen, oder doch lieber die Realschule? Zumindest aber die Realschule anstelle der Hauptschule, deren Ruf mittlerweile deutlich schlechter ist als das, was diese Schulen immer noch leisten. Für viele scheint daher die Gesamtschule mit ihren individuellen Lernwegen und dem Offenhalten eines Abschlusses für die geeignete Alternative.


Was ist das Anliegen der Friedensschule für die Zukunft?
Es liegt der Schulleitung und dem Kollegium sehr am Herzen, dass die Friedensschule auch im nächsten Jahrzehnt unverkennbar klar als Gesamtschule wahrgenommen wird. Wir fühlen uns den Gründern der Friedensschule verpflichtet, auch in Zukunft, Kinder aus benachteiligten Schichten, Kinder mit Lernschwierigkeiten und solchen aus problematischen familiären Situationen hier eine echte Chance, vielleicht sogar ein Zuhause zu geben. Auch wenn unsere Anmeldezahl etwas anderes zuließen, werden wir weiterhin zu je einem drittel Hauptschüler, Realschüler und gymnasial geeignete Schüler aufnehmen. Wir freuen uns, wenn auch weiterhin eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern, den dies nach der Grundschulzeit nicht zugetraut wurde, bei uns ihr Abitur machen. Aber wir sollten verstärkt unseren Eltern und Schülern deutlich machen, dass das Abitur alleine kein selig machendes Stück Papier ist. Viele Eltern und Schüler wissen viel zu wenig über hochwertige alternative Ausbildungswege. Da es um Lebensperspektiven und Lebenswege junger Menschen geht, sehe ich es als eine zentrale Aufgabe einer modernen katholischen Gesamtschule, unseren Schülerinnen und Schülern die Vielzahl beruflicher Wege nicht nur zu eröffnen, sondern sie diesbezüglich auch nachhaltig zu beraten.

Ulrich Bertram  (Mai 2011)